- Nippur: Sumers Kultzentrum
- Nippur: Sumers KultzentrumUnter den sumerischen Städten des 3. Jahrtausends v. Chr. nahm Nippur eine herausragende Stellung ein. Dies verdankte die Stadt aber etwa nicht einer machtpolitischen Dominanz im südlichen Mesopotamien, sondern ihrer besonderen geistig-kulturellen und religiösen Bedeutung. Denn Nippur beherbergte das Heiligtum des Gottes Enlil, der seit der ersten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. die führende Rolle im sumerischen Pantheon einnahm.Enlil (»Herr Wind«) galt als Sohn des Himmelsgottes Anu und bildete zusammen mit diesem und Enki (»Herr des Unten«), dem Gott der Weisheit, die oberste sumerische Göttertrias. Seinem Vater Anu zunächst nachgeordnet, verdrängte Enlil den Himmelsgott sowohl in der religiösen Vorstellungswelt der Sumerer als auch im Rahmen der praktischen Religionsausübung von der führenden Position; die Funktion des Stadtgottes von Nippur übernahm mehr und mehr Enlils Sohn Ninurta (»Herr der Erde«). Enlil, der »große Berg« und der »Herr aller Länder«, war als »Herr der Schicksalsbestimmung« der Leiter der göttlichen Ratsversammlung. Diese führende Position Enlils im Pantheon fand ihren Niederschlag auch in der sumerischen mythologischen Dichtung. So trennte Enlil nach dem »Lehrgedicht von der Hacke« Himmel und Erde voneinander und trat als Weltenordner auf. Andere Texte berichten von Götterfahrten nach Nippur: Die nach Nippur reisenden Götter erbaten von Enlil Segen und Wohlergehen für ihre Städte, in denen sie jeweils residierten. Nach der späteren akkadischen Überlieferung war Enlil als oberster Gott zudem im Besitz der Schicksalstafeln der Götter. Mit dem Aufstieg Enlils zum obersten sumerischen Gott wuchs zugleich die Bedeutung seines in Nippur gelegenen Heiligtums, des Ekur (»Haus Berg«). Ursprünglich nur von lokalem Gewicht als Sitz des Stadtgottes, gewann das Ekur - und damit auch die Stadt Nippur - im Verlauf des 3. Jahrtausends v. Chr. überregionale Bedeutung für den gesamten sumerischen Süden Mesopotamiens.Es ist umstritten, ob es in frühstaatlicher Zeit bereits einen politisch-religiösen Verbund sumerischer Städte mit Nippur als Zentrum gegeben hat. Inschriften von Herrschern altsumerischer Stadtstaaten zeigen jedoch, dass spätestens um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. Nippur eine entscheidende Rolle im Rahmen der Herrschaftslegitimation gespielt haben muss. Nippur, das »Band zwischen Himmel und Erde«, war zwar selbst wohl nie Ausgangspunkt für den Kampf um die politische Vormachtstellung. Aber ohne die Zustimmung und das Wohlwollen des Gottes Enlil - und damit der Enlil-Priesterschaft - war eine dauerhafte politische Dominanz in Sumer nicht zu erlangen. Die Inschriften von Eannatum, Enanatum I. und Entemena - Königen des Staates von Lagasch im 24. Jahrhundert v. Chr., für die der Kampf um Vorherrschaft in Sumer bezeugt ist - betonen daher, dass dem jeweiligen König »Kraft von Enlil verliehen« war oder dass »das erhabene Zepter der Schicksalsentscheidung Enlil von Nippur« dem König übergeben hatte. Auch als es Lugalzaggesi von Umma gelungen war, Sumer unter seiner Herrschaft zu vereinen, berief er sich in seinem Machtanspruch ausdrücklich auf Enlil, der »ihm das Königtum über das Land (Sumer) verliehen« habe. Die enorme Bedeutung, die Nippur für die Herrschaftslegitimation zu jener Zeit erlangt hatte, zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass Sargon von Akkad nach seinem Sieg über Lugalzaggesi seinen Gegner in einem hölzernen Halsstock vor dem Enlil-Heiligtum in Nippur zur Schau stellte; damit verlor Lugalzaggesi seine Legitimation, während Sargon sich als nunmehriger König des Landes Sumer um die Gunst Enlils bemühte.Auch die Nachfolger Sargons waren sich der Bedeutung Nippurs und des Enlil-Heiligtums für die Anerkennung ihrer Herrschaft durch die Bevölkerung des sumerischen Südens bewusst. Eine Rebellion der südmesopotamischen Reichsteile gegen Rimusch bewies bereits zu Beginn von dessen Regierungszeit, dass die Politik der akkadischen Zentralgewalt gegenüber dem sumerischen Süden letztlich nur dann erfolgreich sein konnte, wenn man die ideologisch-religiösen Grundlagen der sumerischen Gesellschaft nicht nur beachtete, sondern sie sich auch zunutze machte. Wohl nicht zuletzt aus dieser Einsicht heraus begannen unter Naramsin umfangreiche Bau- und Rekonstruktionsmaßnahmen am Ekur in Nippur, die dann unter Scharkalischarri zu Ende geführt wurden. An dem Neubau und der prachtvollen Ausschmückung des Ekur waren zahlreiche Handwerker beteiligt: Goldschmiede, Bildhauer, Steinschneider, Zimmerleute und Schmiede. Riesige Mengen an Gold, Silber, Bronze und Kupfer wurden als Materialien eingesetzt. Das Bauprojekt war keine lokale Angelegenheit, sondern stand unter der Leitung hoher königlicher Beamter; eine Tochter des Naramsin, Tutanapschum, bekam zudem die Würde einer Hohepriesterin des Enlil in Nippur übertragen.Trotz seiner offensichtlichen Bemühungen um das Ekur erscheint Naramsin in der gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. entstandenen sumerischen Dichtung »Fluch über Akkad« aber als Unheilsherrscher, dessen Hybris zum Untergang von Akkad geführt habe. Als Grund für den Zusammenbruch, den ein Fluch der Götter bewirkt habe, wird ein Sakrileg Naramsins angegeben: die Eroberung und Plünderung von Nippur sowie die Zerstörung des Enlil-Heiligtums. Sowohl die dem Text zugrunde liegende Auffassung, dass der Zusammenbruch Akkads mit der Regierungszeit des Naramsin in Verbindung zu bringen sei, als auch die Angaben über die Haltung des Königs zu Nippur und dessen Hauptheiligtum widersprechen aber den überlieferten historischen Tatsachen. Somit dürfte es sich bei dieser Dichtung vor allem um eine politisch motivierte Tendenzschrift handeln, die ihren geistigen Ursprung in der oppositionellen Haltung der Enlil-Priesterschaft von Nippur hatte.Eine erneute Bautätigkeit am Ekur setzte unter Urnammu, dem Begründer der 3. Dynastie von Ur, ein. Da diese Herrscherdynastie ihren machtpolitischen Ausgangspunkt und ihre ideologische Basis im sumerischen Süden hatte, ist es nur natürlich, dass unter ihr Nippur das religiöse Zentrum des Reiches und das Ekur das zentrale Heiligtum bildeten. Die Durchführung des Kults und die Versorgung des Ekur waren wichtige Bereiche königlicher Politik. So rühmte sich Amarsuena, »den Enlil in Nippur berufen« hatte, in seinen Inschriften als »Versorger des Enlil-Tempels«. Die Provinzstatthalter des Südens und des Dijala-Gebietes waren in einer Art Amphiktyonie vereint, in deren Rahmen sie die Heiligtümer von Nippur mit Opferlieferungen, bestehend vor allem aus Tieren, versorgten. Die herausragende Rolle Nippurs kam auch in dem überlieferten Vorgang der Investitur der Könige der 3. Dynastie von Ur zum Ausdruck: Nippur war einer der drei Krönungsorte. Als dann in der Phase des Niedergangs des Reiches der 3. Dynastie von Ur Ischbierra in Isin eine eigene Dynastie zu etablieren suchte, berief er sich, vielleicht bestärkt durch die Enlil-Priesterschaft, in der Auseinandersetzung mit Ibbisin darauf, dass Enlil ihn - Ischbierra - als König bestätigt habe; die Rechtmäßigkeit von Ibbisins Königtum konnte damit angezweifelt werden.In der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. verlor Nippur zunehmend seine Bedeutung als zentraler Kultort, was mit den neuen politischen Bedingungen und den Veränderungen in der religiösen Vorstellungswelt der Bewohner des alten Mesopotamien zusammenhing. Die Rolle Enlils als oberster Gott nahmen nun in Babylonien Marduk und in Assyrien Assur ein.Dr. Hans Neumann
Universal-Lexikon. 2012.